Kastration - ja oder nein?


Diese Frage haben Sie sich als Hundehalter bestimmt auch schon gestellt! Als
Entscheidungshilfe möchten wir Ihnen diesen Artikel von Frau Dr. Niepel, der auf den
Ergebnissen ihrer Bielefelder Kastrationsstudie basiert, ans Herz legen.
Bei weitergehendem Interesse empfehlen wir Ihnen „Kastration beim Hund. Chancen und
Risiken – eine Entscheidungshilfe“ von Gabriele Niepel, erschienen im Kosmos Verlag 2007.
„Wer allen Ernstes behauptet, dass eine unkontrollierbare Fortpflanzung
nur durch Kastration zu verhindern sei, der muss sich die Frage stellen,
wie viel er von Hundehaltung und Hundeverhalten versteht.
Die Kastration bedeutet eine Amputation und steht, vom Gesetz
hergesehen, damit in einer Reihe mit dem Kupieren von Ohren und Ruten.
Die Rechtmäßigkeit von Kastrationen müssen im Einzelfall Gerichte
prüfen.
Tierschutzgesetz §5 - Verboten ist das vollständige oder teilweise
Amputieren von Körperteilen oder das vollständige oder teilweise
Entnehmen oder Zerstören von Organen oder Geweben eines
Wirbeltieres.


Hündinnen kastrieren lassen - ja oder nein?


Diese Frage ist eher mit "Nein" zu beantworten, wenn der Wunsch nach
Verhaltenskorrektur einer aggressiven Hündin besteht (es sei denn, diese
Aggressivität tritt ausschließlich und in unverhältnismäßigem Ausmaß nur
in der Zeit der Läufigkeit / der Scheinschwangerschaft auf). Ansonsten ist
die Kastration nicht nur nicht erfolgreich im Sinne einer
Aggressionsminderung, sondern geradezu kontraproduktiv,
die Hündin ruhiger oder im Gegensatz aktiver werden soll: Auswirkungen
sind einfach nicht vorherzusagen, man kann das genaue Gegenteil von
dem erzielen, was man eigentlich erreichen wollte,
die Prophylaxe gegen Mammatumoren das entscheidende Argument sein
soll: Die Wahrscheinlichkeit der Erkrankung daran rechtfertigt das
Inkaufnehmen anderer gesundheitlicher Risiken nicht. Eine
Risikominimierung besteht relevant nur bei Frühkastration, doch die
Kastration vor der Geschlechtsreife birgt zu viele Risiken,
der Halter einfach weniger Unannehmlichkeiten in der Zeit der
Läufigkeithaben will (Ausnahme: Hündin teilt sich den Haushalt mit
unkastriertem Rüden), wenn er ungestört Urlaub machen oder wenn er
mit seiner Hündin nicht im Hundesport aussetzen will. Abgesehen von der
ethischen Berechtigung dieser egoistischen Gründe wird eine Kastration
aus diesen Gründen vom Tierschutzgesetz auch nicht gedeckt,
die Kastration als der einzige Weg zur Vermeidung ungewollter
Trächtigkeit gesehen wird (Ausnahme: ein "intakter" Rüde im Haushalt; in
dem Fall ist jedoch zu prüfen, ob nicht eher die Kastration des Rüden als
jene der Hündin anzuraten ist).
Diese Frage ist eher mit einem "Ja" zu beantworten:
bei Akuterkrankungen der Geschlechtsorgane, bei Diabetes mellitus und
hormonell bedingten Ohrenerkrankungen (bei denen eine Allergie gegen
Geschlechtshormone der Auslöser ist, kommt selten vor), bei
wiederholten, ausgeprägten Scheinschwangerschaften der Hündin, die mit
starkem Leidensdruck für diese einhergehen,
bei extremem Aggressionsverhalten während der Zeit der Läufigkeit und
anschließender Scheinschwangerschaft,
bei Hündinnen, die das ganze Jahr so attraktiv riechen, dass sie
permanent von Rüden belästigt werden und darunter leiden.
Die Kastration ist immer noch unschädlicher für die Hündin als die Praxis
der Läufigkeitsunterdrückung durch Hormonspritzen, da diese extrem
krebserregend sind und häufig Gebärmutterentzündung verursachen.
Gedanken zur Frühkastration der Hündin
Der gegenwärtig zu beobachtende Trend der Frühkastration von
Hündinnen muss als besorgniserregend betrachtet werden. Nicht nur, weil
solche Hündinnen nie richtig erwachsen werden können und den Schub
Richtung reifen Erwachsenenverhaltens, der in der Pubertät ansteht, nicht
bekommen, sondern auch aus handfesten medizinischen Gründen. Wer
allein wegen der Unannehmlichkeiten in der Läufigkeit seine Hündin
kastrieren lässt, dem ist erstens zu entgegnen, dass er sich
tierschutzwidrig verhält, und zweitens, dass er mit einem Stoffhund wohl
besser beraten wäre. Zum Lebewesen Hund gehören auch sein
geschlechtsspezifisches Verhalten, die Stimmungsschwankungen bei
hormonellen Veränderungen und seine Veränderung im Wesen, wenn er
pubertiert und langsam erwachsen wird. Wer diesen Weg nicht mit seiner
Hündin mitgehen will - der sollte auf das Halten eines Hundes besser
verzichten. Oberstes Entscheidungsprinzip in der, Frage der Kastration
sollte das Wohl des Hundes sein. In jedem Einzelfall ist zu klären, ob eine
Kastration vielleicht angebracht wäre. Nur eine feste Regel kann man
Hündinnenbesitzer an die Hand geben: Wenn Sie kastrieren lassen wollen
- bitte warten Sie ab, bis Ihre Hündin das erste Mal läufig gewesen ist,
und danach noch gute zwei Monate mit der Operation.


Rüden kastrieren lassen - ja oder nein?


Eine Kastration kann angezeigt sein:
bei körperlichen Erkrankungen wie Hodentumoren, Analtumoren,
Prostataerkrankungen, Kryptorchismus, persistierende (nicht ausheilende)
Vorhautentzündung,
bei Rüden, die ständig aufgeregt und kaum ansprechbar sind, weil sie
nicht nur auf wirklich läufige bzw. auf Hündinnen reagieren, die ihre
Stehtage haben, sondern von jedem "Rockschoß" magisch angezogen
werden, das Futter verweigern, nur noch jammern, nächtelang jaulen, an
der Leine nicht mehr zu bändigen sind und nach dem Ableinen sofort auf
und davon sind. Diesen Rüden kann/sollte man ihr Dasein mittels
Kastration erleichtern. Die Chance, dass sie ausgeglichen werden, ist groß.
Aber auch hier gilt es, nach der Verhältnismäßigkeit zu fragen: Wenn ein
Rüde auf dem Spaziergang direkten Kontakt mit einer hochläufigen
Hündin hat und von der nur noch durch Anleinen wegzubekommen ist, so
kann man kaum von Hypersexualität sprechen, die eine Kastration
erfordert. Wenn ein Rüde im Erziehungskurs unkonzentrierter arbeitet,
weil eine Hündin nach einem dreiwöchigen Aussetzen wegen Läufigkeit
wieder mitmacht, so ist das auch noch kein Indiz für einen übersteigerten
Sexualtrieb des Rüden. Läuft der Rüde im selben Kurs jedoch nahezu
andauernd mit ausgefahrenem Penis herum, hechelt unablässig, stiert den
`Mädels` nach und nutzt jede ihm sich bietende Gelegenheit, die - nicht
läufigen - Hündinnen zu belästigen, so sollte man über eine Kastration
nachdenken. Und zwar nicht, weil man selber einfach genervt ist, sondern
weil in diesem Fall davon auszugehen ist, dass der Rüde wirklich
Leidensdruck hat. Man sollte jedoch nicht erwarten, dass sich das
Verhalten sofort gibt. Hopkins u.a. (1976) haben in ihrer Studie
herausgefunden, dass im Falle der Rüden, bei denen die gewünschte
Veränderung eintrat, sich diese Veränderung nur bei der Hälfte bald nach
der Kastration zeigte, bei der anderen Hälfte kam es zu einer
schrittweisen Abnahme über die Zeit hinweg. Bedenkt man, dass der
Testosteronspiegel innerhalb von sechs bis acht Stunden nach der
Kastration auf kaum noch messbare Werte sinkt (Hart / Hart, 1991), so
wird allein daran deutlich, dass Testosteron offenbar nicht die alleinige
Einflussgröße auf das Verhalten der Rüden ist!
Anzumerken ist noch, ob sich Züchter nicht vielleicht einmal Gedanken
darüber machen sollten, ob es nicht auch ein Zuchtziel sein sollte, Rüden
mit normalem, statt hypersexuellem Verhalten zu züchten. Angesichts des
Leidensdrucks, den solch hypersexuelle Rüden haben, müsste schon aus
der Verantwortung für die Hunde auch auf diese Verhaltenskomponente in
der Zucht Rücksicht genommen werden.
Eine sehr hohe Erfolgsquote zeitigt die Kastration bei Streunern, jedoch ist
ein Erfolg nur dann zu erwarten, wenn der Hund auf "Freiersfüßen"
wandelt - und nicht weil er sich langweilt oder einfach die Komposthaufen
der Nachbarn inspizieren oder Kaninchen auf dem nahe gelegenem
Kohlfeld jagen will.
Wenn ein extremes Aufreiten bei Hunden und/oder Menschen zu
verzeichnen ist, insbesondere nach Eintritt der Geschlechtsreife, stehen
die Chancen gut, dieses Verhalten zumindest zu vermindern. Allerdings
sollte man schon sehr genau hinschauen, ob sich der Rüde "nur" sexuell
abreagiert oder ob es sich um eine gezielte Geste seinem Menschen
gegenüber handelt, wenn der Rüde vor allem bei seinem Besitzer
aufreitet. Da sind Korrekturen in der Mensch-Hund-Beziehung eher
angebracht als das ausschließliche Verfolgen der "medizinischen Lösung"
Urinmarkieren im Haus kann durch eine Kastration günstig beeinflusst
werden weniger das Markieren im Freien.
Bei Rangordnungsauseinandersetzungen zwischen zwei "intakten"
Rüden,die im gleichen Haushalt leben, ist die Kastration oft das letzte
Mittel, um ein weiteres Zusammenleben zu ermöglichen. Voraussetzung
ist aber, dass man den richtigen kastriert, also den, der nach reiflicher
Beobachtung und Erwägung aller Fakten als jener eingeschätzt werden
kann, der eher für die nachrangige Position taugt. Kastriert man den
mental und physisch stärkeren, wird die Situation mit hoher
Wahrscheinlichkeit eskalieren. Parallel muss in der ersten Zeit nach der
Kastration auch eine Verhaltenstherapie durchgeführt werden.
Wann ist eine Kastration nicht anzuraten?
Folgende geschlechtsunabhängige Verhaltensweisen sind mittels
Kastration nicht zu beeinflussen: Angstaggression, Jagen, Wachsamkeit.
Wen die Wachsamkeit seines Rüden stört, dem wird durch eine Kastration
auch nicht geholfen.
Bei aggressivem Verhalten gegen andere Hunde, das aus Angst geboren
ist, ist nicht nur keine positive Veränderung zu erwarten, weil dieses
Verhalten nicht unter Einfluss von Geschlechtshormonen steht. Zu
befürchten ist gar eine Verschlimmerung, da nach einer Kastration eine
Reihe von Hunden auch verunsichertes Verhalten zeigt, somit die Ursache
der Aggression auch noch verstärkt wird. Wer aus der Praxis weiß, dass
die meisten der vorgestellten Aggressionsfälle Hunde sind, deren
Aggression auf Verunsicherung und Angst zurückzuführen ist, der wird
sehr vorsichtig mit dem Vorschlag einer Kastration sein.
Ratschläge, nach denen bei "Dominanzaggression" der Hund als erstes zu
kastrieren sei, danach könne man sich an die Umerziehung machen, sind
mit Vorsicht zu genießen, Denn: Erstens ist nur in wenigen Fällen eine
verminderte Aggression gegen Familienmitglieder zu sehen, was auch kein
Wunder ist: Ist die Aggression angstbedingt, kann sich nichts zum
Positiven verändern. Hat man es tatsächlich mit einem Dominanzproblem
zu tun, geht es primär um das Beziehungsgefüge Hund/Halter und nicht
um die Hormone des Hundes. Zweitens: Häufig wiegen sich die Halter in
falscher Sicherheit, meinen, mit der Kastration laufe automatisch dann
schon alles in den richtigen Bahnen und man müsse sich nicht mehr an die
anstrengende Aufgabe machen, sein eigenes Verhalten so zu verändern,
dass der Hund neu ins Familienrudel eingefügt wird. Diese Einstellung
kann dann natürlich fatale Folgen haben.
Das geschlechtsspezifische Verhalten eines Rüden führt nicht notwendig
zu Problemen für sie selbst, für andere Hunde und/oder für ihre Besitzer.
Werden sie einfach kastriert, weil man die geschlechtstypischen, sich im
normalen Rahmen abspielenden Verhaltensweisen eben lästig findet, ist
das ein überflüssiger und damit tierschutzrelevanter Eingriff.
Kastration macht dick und träge
Bei Rüden wie Hündinnen bleibt die Antwort auf die Frage, ob eine
Kastration mit hoher Wahrscheinlichkeit dick macht, unentschieden.
Zusammengefasst kann man wohl nur folgendes festhalten: Es scheint so,
dass nahezu die Hälfte der kastrierten Hunde mehr Hunger entwickeln.
Wenn dem entsprochen wird, ist der Weg zur Gewichtszunahme nicht
mehr weit. Aber auch ein direkter Einfluss der veränderten hormonellen
Situation auf das Stoffwechselgeschehen ist denkbar- dafür spricht die
Erfahrung mit vielen Hundehaltern, die ihre kastrierten Hunde sogar
reduziert füttern und deren Hunde denn och an Gewicht zunehmen.
Eine Kastration macht nicht notwendig dick und faul - aber sie kann dazu
führen.


Frühkastration - ja oder nein?


Was spricht für die gegenwärtig zunehmende Praxis einer frühen
Kastration vor Eintritt der Geschlechtsreife? Die Frage ist schnell
beantwortet: Gar nichts - weder bei Rüden noch bei Hündinnen. Denn der
einzige Vorteil für die Hündinnen, der in der erwiesenen Reduktion des
Mammatumorrisikos besteht, wird angesichts der gegebenen
Wahrscheinlichkeit dieser Erkrankung und der möglichen Nachteile mehr
als aufgehoben. Und wer als Rüdenbesitzer glaubt, sein Rüde würde erst
gar kein "lästiges" Rüdenverhalten wie Markieren, Streunen, Besteigen
und Mackerverhalten gegen andere Rüden an den Tag legen, wenn er ihn
vor der Pubertät kastriert, dem ist zu sagen, dass dieser Glaube leider in
verschiedenen Studien widerlegt worden ist. Die Chance einer
Verhaltensänderung zum Positiven ist nicht vom Alter bei der Kastration
und der Dauer der gezeigten Verhaltensprobleme abhängig. Um diesen
Befund erklären zu können, muss man die im Vergleich zur Hündin anders
ablaufende hormonelle Entwicklung des Rüden berücksichtigen: Es ist
keineswegs so, dass Rüden eben in der Pubertät den entscheidenden
Testosteronschub bekommen, danach die oft unerwünschten männlichen
Verhaltensweisen entwickeln, woraus dann der Schluß gezogen wird, man
müsse den Rüden eben vor diesem Testosteronschub kastrieren, dann
entwickelten sich die Verhaltensweisen erst gar nicht so dramatisch.
Falsch!
Entscheidender pränataler Hormonschub
Zwischen der hormonellen Entwicklung von Hündinnen und Rüden gibt es
einen zentralen Unterschied: Damit das Ungeborene sich zu einem
weiblichen Tier entwickelt, bedarf es keiner vorgeburtlichen Bildung von
ovariellen Hormonen. Die Ausprägung des Nervensystems hin zu einem
weiblichen Wesen erfolgt sozusagen automatisch ohne Einwirkung von
Geschlechtshormonen. Erfolgt kein Testosteronschub, entwickelt sich eine
Hündin, erfolgt ein Testosteronschub, entwickelt sich ein Rüde. Nicht der
Testosteronschub in der Pubertät gibt also den Anstoß für ihr Verhalten:
Entscheidend ist der pränatale Hormonschub, der für die
"Maskulinisierung" des Gehirns verantwortlich ist.
Rüden erhalten noch im Mutterleib und in den ersten Wochen nach der
Geburt Ihren "Testosteronschub" der eben individuell unterschiedlich
ausgeprägt sein kann. Die vorgeburtliche Testosteronstimulation bedingt
die Empfänglichkeit bestimmter Organsysteme für
Testosteroneinwirkungen nach Eintritt der Geschlechtsreife. Später
einschießendes Testosteron scheint Verhaltensweisen höchstens mit zu
aktivieren/intensivieren. Das erklärt nicht nur, warum auch nach der
Kastration hormonbedingte Verhaltensweisen wie das typische
Urinmarkieren und das Aufreiten bei der Hälfte der Rüden erhalten bleibt.
Es erklärt ebenfalls warum auch vorpubertär kastrierte Rüden typische
geschlechtsspezifische Verhaltensweisen zeigen können, wie z. B.:
Markieren mit erhobenem Hinterlauf, Imponiergehabe gegenüber anderen
Rüden, Besteigen, ja sogar Deckakte.
Die Ergebnisse der Bielefelder Studie bestätigen andere Studien und
zeigen zugleich:
Negative Verhaltensänderungen wie
—unsicher im Verhalten gegenüber Artgenossen
—aggressiver gegen gleichgeschlechtliche Hunde
—aggressiver gegen Hunde im allgemeinen, ja sogar Aggression gegenüber
Fremden,
werden am häufigsten von den Haltern solcher Hunde als Folgen
beschrieben, welche im Alter von unter sechs Monaten kastriert worden
sind.
Hinsichtlich eines "besseren" Verhaltens bringt die frühe Kastration weder
beim Rüden noch bei der Hündin Vorteile, sondern eher Nachteile. Und:
Sie bringt Nachteile in bezug auf die körperliche Entwicklung mit sich.
Kastration wegen Verhaltensproblemen?
Generell ist zu sagen, dass eine Kastration aufgrund von
Verhaltensproblemen natürlich nur in Bezug auf solche Verhaltensweisen
sinnvoll sein kann, die über Geschlechtshormone beeinflusst werden. Bei
den Rüden kann man diesbezüglich noch eher von klaren Einflüssen
sprechen (alles, was direkt mit "Sex" zu tun hat, kann mittels Kastration
beeinflusst werden), aber eben auch nur "kann". Was die Kastration als
Mittel der Verhaltenstherapie bei Rüden angeht, so ist sie kein Allheilmittel
für Verhaltensprobleme. Die Auswirkungen sind viel enger begrenzt als
gemeinhin angenommen wird. Eine Kastration ersetzt nicht die richtige
Sozialisation, Erziehung und verhaltensgerechte Haltung des Hundes. Sie
ersetzt, wenn erst einmal Probleme aufgetreten sind, auch selten eine
Verhaltenstherapie. Sie kann sich aber im Einzelfall für das betreffende
Tier und dessen gesamte Umgebung sehr positiv auswirken, wenn sie
nach sorgfältiger Diagnoseerstellung erfolgt.
Im Falle der Hündinnen ist lediglich eindeutig, dass die unmittelbar mit
Läufigkeit und Trächtigkeit/Scheinschwangerschaft einhergehenden
Verhaltensweisen geschlechtshormonbedingt sind. Aber: Es wird
kontrovers diskutiert, ob der Einfluss des weiblichen Hormons Östrogen
auf neurophysiologische Mechanismen, die die geschlechtsgebundenen
Verhaltensweisen steuern, vergleichbar ist mit dem des männlichen
Hormons Testosteron. Eine Kastration der Hündin zwecks
Verhaltenstherapie hat nur Sinn bei übersteigert aggressivem Verhalten,
das ausschließlich in der Zeit der Läufigkeit/der Scheinschwangerschaft
auftritt. Ansonsten ist unter dem Verhaltensgesichtspunkt eine Kastration
nicht nur anzuraten, sondern man muss wegen der Gefahr einer
gesteigerten Aggression sogar abraten. Was die Aussagen zu
Verhaltensveränderungen bei Hunden nach einer Kastration generell
betrifft, so ist Studien zuzustimmen, wenn sie auf mögliche Placeboeffekte
hinweisen: Wenn Hundehalter glauben, dass eine bestimmte Maßnahme
bestimmte Auswirkungen hat, z. B. dass der Hund danach weniger
aggressiv sein soll, dann verhalten sie sich oft anders ihrem Hund
gegenüber. Und dieser veränderte Umgang des Halters mit seinem Hund
kann dann für die beobachteten Veränderungen verantwortlich gemacht
werden - nicht die Trainingsmethode, nicht der Wegfall der
Geschlechtshormone hat die Veränderung des Verhaltens verursacht, aber
der Halter glaubt daran. Und schließlich sind generell subjektive
Wahrnehmungen am Werke.
Kastration - eine Routineangelegenheit?
Zwischen der Kastration von Rüden und Hündin bestehen relevante
Unterschiede, was den Operationsaufwand betrifft. Jener für den Rüden ist
wesentlich geringfügiger, bei der Kastration der Hündin handelt es sich um
eine Bauchoperation mit all ihren Gefahren wie Narkoserisiken,
Abwehrrisiken im Bereich der Ligaturen (Ansammlung von Lymphe und
Blut oder von Wundflüssigkeit), Fistelbildungen, Blutungen,
Nahtdehiszenzen (Auseinanderklaffen der Nähte), Seronbildungen
(Abschnürung von Blut- oder Lymphgefäßen), postoperative
Verwachsungen und Infektionen.
Jeder Hündinnenbesitzer sollte in sich gehen und fragen, ob eine
Vereinfachung der Haltung seiner Hündin es rechtfertigt, sie diesen
Risiken auszusetzen bzw. ihr überhaupt Schmerzen zuzumuten. Wenn in
einem Haushalt Rüde und Hündin zusammen leben und sporadische
Trennungen in Zeiten der Läufigkeit nicht möglich sind, spricht im Fall,
dass keiner der beiden Verhaltensauffälligkeiten zeigt, viele dafür,
aufgrund der geringeren Schwere des Eingriffs den Rüden zu kastrieren
und nicht die Hündin.
Über Legalität und Illegalität der Kastration
Zum Schluss noch ein Hinweis: Die Kastration eines Hundes ist keine
Kleinigkeit, sondern gilt nach deutschem Tierschutzrecht als Amputation.
Eine Amputation kann man nicht einfach nach Lust und Laune
durchführen, sondern es bedarf einer medizinischen Indikation. Diese ist
selbstverständlich bei akuten Erkrankungen wie einer
Gebärmutterentzündung oder Hodenkrebs gegeben. Frühkastrationen
organisch gesunder Hunde kann man mit gutem Willen als gesundheitliche
Vorsorge ansehen - zumindest so lange, wie mögliche gesundheitliche
Negativwirkungen entweder nicht erforscht sind oder, was hier eher der
Fall zu sein scheint zu wenig bekannt sind.
Bedenkt man das Indikationsrisiko bei kastrierten Hündinnen jedweden
Alters, stellt sich aber die Frage, ob Kastration als reine
Prophylaxemaßnahme tatsächlich eine eindeutige medizinische Indikation
ist. Wenn man sich dann nochmals Zahlen von Studien vor Augen hält,
wonach ein Großteil der Rüden aufgrund von Verhaltensproblematiken
kastriert wird, so fragt man sich, wie es da um die Legalität bestellt ist.
Bedenkt man ferner, wie groß der Anteil der Hunde ist, die aus
Bequemlichkeitsgründen der Halter kastriert worden sind, so muss hier
klar festgehalten werden: Eine Erleichterung der Haltung allein ist kein
unerlässlicher Grund für eine Kastration. Ist der Anlass für eine Kastration
das Vermeiden von Nachwuchs oder Läufigkeit, so handelt es sich nicht
um eine medizinische Indikation, sondern nur um eine die Haltung des
Tieres erleichternde Maßnahme. Als Konsequenz müsste die Kastration in
diesem Fall abgelehnt werden.
Handeln Tierärzte noch gemäß des geltenden Tierschutzrechtes, wenn sie
Hündinnen kastrieren, weil den Haltern die Läufigkeit ihrer Hündin lästig
ist, und wenn sie Rüden kastrieren, weil ihre Halter sie erzieherisch nicht
in den Griff bekommen? Viele Hundehalter lassen - streng genommen -
ihren Hund illegal kastrieren, was den meisten Hundehaltern aber nicht
bewusst sein dürfte, da sie die entsprechenden Bestimmungen in der
Regel kaum kennen und sich voll und ganz auf ihren Tierarzt verlassen.
Der mag sich auf die Ausschlussklausel berufen, wonach eine Amputation
zur Verhinderung unkontrollierter Fortpflanzung erlaubt ist.
Nur: Wer allen Ernstes behauptet, dass eben diese unkontrollierbare
Fortpflanzung nur durch Kastration zu verhindern sei, der muss sich die
Frage gefallen lassen, wie viel er von Hundehaltung und Hundeverhalten
versteht. Wir haben es hier mit einer Grauzone zu tun, die offenbar nicht
weiter diskutiert wird. Selbst wenn man die Ausnahmeklause in von § 56
Tierschutzgesetz großzügig auslegen will und so die Kastration normaler
Haushunde in Familien als gedeckt ansieht - ein schaler Beigeschmack
bleibt.
Die Kastration bedeutet eine Amputation und steht, vom Gesetz hergesehen, damit in einer Reihe mit dem Kupieren von Ohren und Ruten.
Die Rechtmäßigkeit von Kastrationen müssen im Einzelfall Gerichte prüfen. Verwertbare Urteile dazu sind im Moment nicht bekannt.“

Text entnommen aus: http://www.tierpsychologin-meissner.de/mediapool/10/106783/data/Kastration_Hund.pdf


weitere Artikel zu diesem Thema:

Die Kastration beim Hund - Ein Paradigmenwechsel

16.10.2014
Von Ralph Rückert, Tierarzt

Ich gehöre zu einer Generation von Tierärzten, der beigebracht wurde, eher beiläufig und ohne großes Nachdenken alles zu kastrieren, was nicht bei Drei auf dem Baum ist. Für einige Tierarten ist das auch nach wie vor der einzig gangbare Weg. Katzen beiderlei Geschlechts werden nun einmal erst durch die Kastration zu Haustieren. Auch Kaninchen und einige Nager können unkastriert eigentlich nicht artgerecht gehalten werden. Beim Hund waren wir aber bezüglich der Kastration nie in einer echten Zwangslage. Man kann mit entsprechendem Aufwand selbstverständlich intakte Rüden und Hündinnen völlig artgerecht halten. Andere Gründe waren ausschlaggebend: Die Prophylaxe verschiedener Erkrankungen, verhaltensmedizinische Probleme und die generelle Erleichterung der Haltung für den Besitzer. Den Vorteil der Unfruchtbarmachung hat man eher nebenbei mitgenommen. Wir lebten in der Überzeugung, dass wir den Hunden auf jeden Fall etwas Gutes tun. Diesbezüglich wird uns aber nun gerade der Teppich unter den Füßen weggezogen! Wenn Sie es irgendwo laut krachen hören, könnte das der Aufprall unseres kollektiven tiermedizinischen Hinterns auf dem Boden sein.
Es ist nicht so, dass ich nicht schon seit einigen Jahren die Glocken hätte läuten hören. Immer wieder kamen Studien heraus, die den Verdacht nährten, dass die Nebenwirkungen der Kastration des Hundes bei beiden Geschlechtern weit über das hinausgingen, was wir bisher für gegeben erachtet hatten. Es handelte sich aber erstmal nur um einzelne Veröffentlichungen, die teilweise auch gleich wieder mit Gegenstudien angegriffen wurden. Nun sind aber erste sogenannte Metaanalysen im Umlauf, also Arbeiten, die die Ergebnisse mehrerer Studien zu einem Thema zusammenfassen. Auch deren Folgerungen sind nach wie vor beileibe nicht unumstritten, aber es zeichnet sich doch ein klarer Trend ab, auf den ich als Praktiker an der Front reagieren muss.

Prof. Dr. Börne aus dem Münsteraner Tatort-Team sagte in der letzten Folge sinngemäß: Feste Überzeugungen sind was für schlechte Ärzte, Heilpraktiker und Taxifahrer! Er hat auf jeden Fall damit recht, dass gute Mediziner sich immer darüber im Klaren sein müssen, dass die Medizin eine Wissenschaft ist und dass die Wissenschaft nicht stillsteht. Das kann manchmal, so erschreckend das sowohl für Arzt als auch Patienten sein mag, zu einem recht abrupt wirkenden Kurswechsel führen. Und genau so etwas kündigt sich jetzt bezüglich der Hundekastration an.

Was haben wir bisher als Tatsachen gesehen? Trennen wir es mal der Übersichtlichkeit halber nach Geschlecht auf und fangen wir mit der Hündin an. Während unserer immer schon sehr ausführlichen Kastrationsberatung wurden Besitzer von Hündinnen seit jeher auf die folgenden Risiken hingewiesen: 
-Harninkontinenz (Harnträufeln), das um so wahrscheinlicher auftritt, je schwerer die Hündin wird.
-Fellveränderungen (Baby- oder Wollfell), sehr häufig auftretend bei langhaarigen Rassen.
-Fettleibigkeit, die vor allem dann entsteht, wenn die Fütterung nicht an den reduzierten Kalorienbedarf nach einer Kastration angepasst wird.
-Seit einigen Jahren weisen wir auch auf unsere persönliche Erfahrung hin, dass die unter Hunden weit verbreitete Schilddrüsen-Unterfunktion (Hypothyreose) so gut wie ausschließlich bei kastrierten Tieren festgestellt wird.

Das war's aber auch schon. Was haben wir als Vorteile erwähnt?
-Keine Läufigkeit mehr (keine Blutung, keine ungewollte Fortpflanzung)
-Je nach Zeitpunkt der Kastration so gut wie vollständige Verhinderung von Mammatumoren (Brustkrebs)
-Definitive Vermeidung von Eierstock-Tumoren und der Gebärmutter-Vereiterung (Pyometra)
-Stabilisierung der Psyche durch Vermeidung starker hormoneller Schwankungen im Rahmen der Läufigkeit, allerdings mit der Einschränkung, dass bei manchen Hündinnen nach der Kastration ein gewisser Testosteron-Überhang entsteht, was die Hündin insgesamt männlich-grimmiger machen kann.

Auch das Für und Wider der im angloamerikanischen Kulturraum so weit verbreiteten Frühkastration (vor der ersten Läufigkeit) wurde besprochen. Ich bilde mir ein, dass ich nie einen Hündinnen-Besitzer zu etwas gedrängt habe. Mir war immer wichtig, dass der Verantwortliche in möglichst umfassender Kenntnis der aktuellen Faktenlage eine Entscheidung trifft und dann deren Vor- und Nachteile akzeptiert.

Beim Rüden war die Kastration immer eine Kann-aber-muss-nicht-Geschichte. Die krankheitsverhütenden Auswirkungen waren recht überschaubar, die Nebenwirkungen auch.
Nachteile:
-Auch beim Rüden tritt gelegentlich Harninkontinenz auf, aber viel seltener als bei der Hündin.
-Das gleiche gilt für Fellveränderungen.
-Das Problem des verringerten Kalorienbedarfs besteht völlig analog zur Hündin, also werden Rüden, die nach der Kastration die gleiche Futtermenge wie zuvor bekommen, ebenso fettleibig.
-Ebenfalls wie bei der Hündin stellen wir Schilddrüsenunterfunktionen eigentlich nur bei kastrierten Tieren fest.
Bezüglich der Vorteile lag die Hauptbetonung immer auf einer vom Besitzer erhofften Modifikation des typischen Rüdenverhaltens (Markieren, sexuell motivierte Aggression, Streunen, etc.). Von einer krankheitsverhütenden Wirkung ging man aus bezüglich:
-Hodentumoren (logisch!)
-Prostatatumoren
-Gutartiger Prostatavergrößerung
-Perianaltumoren

Auch in dieser Frage haben wir keinen Besitzer zu irgendetwas gedrängt, sondern eine eigene, auf Fakten beruhende Entscheidung gefördert. Allerdings sind wir seit der Markteinführung des Suprelorin-Implantates, das einen Rüden für eine bestimmte Zeit hormonell und reversibel - sozusagen auf Probe - kastriert, auch in Bezug auf diese Operation sehr zurückhaltend geworden.

Insgesamt kann man sagen, dass wir bei beiden Geschlechtern bis vor einiger Zeit der Ansicht waren, dass die Vorteile die Nachteile eher überwiegen. Wir haben diesen Standpunkt nicht nur vertreten, sondern durchaus selbst befolgt. Unsere Ridgeback-Hündin Nandi, die vor vier Jahren gestorben ist, war kastriert. Laurin, der jetzt zehn Jahre alte Rüde unserer Tochter, ist ebenfalls kastriert. Unser jetziger Hund, der vier Jahre alte Terrier-Rüde Nogger, ist es dagegen nicht. Was hat sich geändert? Ich muss dazu etwas weiter ausholen, bitte halten Sie durch!

Ich behaupte, dass die Tiermedizin als Wissenschaft sich zu lange auf sehr alten Studien zu dieser Thematik ausgeruht hat. Viele der Daten, mit denen wir argumentiert haben, stammen aus den Siebziger-Jahren des vorigen Jahrhunderts. In letzter Zeit aber setzt sich in der medizinischen Wissenschaft ein neues Denken durch, die sogenannte Evidenzbasiertheit, was (vereinfacht) bedeutet, dass sich möglichst jede medizinische Vorgehensweise auf tatsächlich beweisbare Fakten stützen sollte. Dementsprechend wird momentan alles in Frage gestellt, was immer schon als Tatsache galt, aber nie so richtig bewiesen wurde. So wuchs auch der Drang der Forscher, das alte Thema der Kastration erneut aufzugreifen. Wie weiter oben schon erwähnt: Zuerst waren es einzelne und stark in Zweifel gezogene Studien, die zur Veröffentlichung kamen und noch keinen echten Anlass für einen Kurswechsel darstellten. Inzwischen verdichtet sich die Datenlage aber derart, dass man sie nicht mehr ignorieren kann.

Was ist jetzt das Problem, fragen Sie? Das Hauptproblem, mit einem Wort ausgedrückt, ist Krebs! Mit der Kastration wird einerseits das Auftreten bestimmter Tumore verhindert, andererseits aber steigt das Risiko für andere Krebsarten, und zwar wahrscheinlich so deutlich, dass das gesamte bisherige Kastrationskonzept in Frage gestellt wird. Einer der wichtigsten Grundsätze der Medizin lautet: Nihil nocere! Niemals schaden! Für mich sieht es inzwischen fast so aus, als ob man einen Hund nicht mehr ohne strengste Indikationsstellung kastrieren könnte, ohne diesen Grundsatz zu verletzen. 

Eine der umfassendsten und bezüglich der Fallzahlen beeindruckendsten Arbeiten zu dem Thema ist für mich "Evaluation of the risk and age of onset of cancer and behavioral disorders in gonadectomized Vizslas (Risiko und Erkrankungsbeginn von Krebs und Verhaltensstörungen bei kastrierten Vizslas)". In dieser im Februar diesen Jahres im angesehenen Journal of the American Veterinary Medical Association veröffentlichten Studie greift die Kollegin Christine Zink auf die Daten von 2505 (!) ungarischen Vorstehhunden (Magyar Vizsla) zurück. Es macht im Rahmen eines Blog-Artikels wie diesem keinen Sinn, detailliert auf Kollegin Zinks Ergebnisse einzugehen, aber alles in allem muss man feststellen, dass kastrierte Tiere beiderlei Geschlechts ein teilweise um ein Mehrfaches erhöhtes Risiko aufwiesen, an bestimmten Krebsarten (Mastzelltumore, Hämangiosarkom, Lymphosarkom) zu erkranken, und das auch noch zu einem deutlich früheren Zeitpunkt als intakte Artgenossen. Auch bestimmte Verhaltensstörungen, vor allem die Angst vor Gewittern, kamen bei kastrierten Tieren deutlich häufiger vor. Andere Studien belegen, dass das Risiko für die Entwicklung eines Osteosarkoms (Knochenkrebs) für kastrierte Hunde um das drei- bis vierfache erhöht ist. Selbst die Datenlage zur Verhinderung von Gesäugetumoren durch die Kastration steht unter Beschuss. Und bösartige Prostatatumoren beim Rüden treten bei Kastraten nicht seltener, sondern häufiger auf!
Insgesamt wird die erhöhte Anfälligkeit für Tumorerkrankungen aktuell mit einer durch den Wegfall der Geschlechtshormone zusammenhängenden Beeinträchtigung des Immunsystems in Zusammenhang gebracht. Dafür spricht auch, dass bei kastrierten Hunden offenbar sogar eine höhere Infektanfälligkeit nachzuweisen ist.

Besonders bedrückend ist für mich, dass eine Kastration fast sicher das Auftreten von Hämangiosarkomen, den berüchtigten Milztumoren, fördert. Ich bin auf diese Erkrankung in einem früheren Blogartikel schon einmal eingegangen. Mit dieser extrem bösartigen und gefährlichen Tumorart haben wir es bei älteren Hunden andauernd zu tun. Unsere Nandi wurde aufgrund metastasierter Milztumore eingeschläfert. Die Vorstellung, dass wir diese fiese Krankheit durch Kastration auch noch gefördert haben sollen, finde ich einfach schrecklich. Meine amerikanische Kollegin und Krebsspezialistin Alice Villalobos findet dafür einen sehr passenden Ausdruck: Earth shattering!

Damit leider nicht genug: Auch verschiedene orthopädische Probleme werden inzwischen mit der Kastration in Verbindung gebracht. Bezüglich Kreuzbandrissen scheint es bereits unumstritten festzustehen, dass diese Verletzung bei kastrierten Tieren deutlich häufiger vorkommt. Es gibt aber auch Hinweise, dass sogar Hüftgelenkarthrosen bei Kastraten früher und schlimmer auftreten. Letzteres scheint aber noch nicht wirklich sicher. Ziemlich klar dagegen ist der Zusammenhang zwischen der Kastration und der häufigsten endokrinologischen Störung des älteren Hundes, der Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose). 

Nachdem, wie schon erwähnt, momentan alles in Frage gestellt wird, was bisher galt, könnte man noch einige Punkte mehr aufführen, aber das bringt uns an dieser Stelle nicht weiter. Wenn wir den Grundsatz, niemals schaden zu wollen, ernst nehmen, ist es hier und jetzt Zeit für einen Kurswechsel. Wir können beim Hund nicht mehr guten Gewissens einfach so im Vorbeigehen kastrieren! Selbstverständlich wird es nach wie vor Hunde geben, die nach sorgfältigster Abwägung der individuellen Umstände trotzdem kastriert werden. Da mögen bestimmte Haltungsbedingungen (Hündin und Rüde im gleichen Haushalt) vorliegen oder gute medizinische Gründe (Perianaltumore oder eine Perinealhernie beim Rüden, chronische oder akute Gebärmuttererkrankungen bei der Hündin), die einfach keine andere Wahl lassen. Von solchen klaren Indikationen aber abgesehen werden wir in Zukunft mit Kastrationen in unserer Praxis noch zurückhaltender sein als wir es in den letzten Jahren sowieso schon waren.

Ach ja, ein letzter Punkt vielleicht noch: In letzter Zeit scheint es sich zu häufen, dass Hundetrainerinnen und Hundetrainer es sich zutrauen, speziell bei Rüden eine Kastrationsindikation zu stellen, um Erziehung und Handling zu erleichtern. Die Besitzer treten dann an uns heran mit der Bitte, den Hund zu kastrieren, weil es die Trainerin oder der Trainer so angeraten habe. Davon kann unter Berücksichtigung der erläuterten Faktenlage natürlich gar keine Rede sein! Eine sich eventuell etwas schwieriger als erwartet gestaltende Erziehung stellt zumindest in unserer Praxis keine ausreichende Begründung für diesen Eingriff dar.

Ich könnte mir gut vorstellen, dass Besitzer von Hunden, die irgendwann in unserer Praxis kastriert wurden, jetzt darüber unglücklich oder gar auf uns sauer sind. Das ist einerseits auf der emotionalen Ebene ein Stück weit nachvollziehbar, andererseits kann ich den Vorwurf nur an die in der Forschung arbeitenden Stellen weitergeben. Ich bin als Praktiker von der Forschung und ihren Erkenntnissen abhängig und beileibe nicht glücklich, dass man sich bezüglich dieses Themas gute dreißig Jahre auf alten Lorbeeren ausgeruht hat. Davon abgesehen: Bitte keine Panik, dazu gibt es absolut keinen Anlass. Wenn wir beispielsweise bei einer bestimmten Tumorart von einer Verdreifachung des Risikos sprechen, klingt das im ersten Moment wirklich übel. Wenn man sich aber klar macht, dass diese Tumorart an sich nur eine Wahrscheinlichkeit von 1,5 Prozent hat, dann bedeuten die aus einer Verdreifachung des Risikos resultierenden 4,5 Prozent immer noch, dass ein ganz bestimmter Hund diesen Tumor zu 95,5 Prozent NICHT bekommen wird.

Viele, nicht zuletzt Kolleginnen und Kollegen, werden einwenden, dass ein solcher Kurswechsel langfristig auch wieder bestimmte Konsequenzen haben wird. Stimmt! Wir werden bei intakten Hündinnen eventuell wieder öfter Gesäugetumoren und ganz sicher wieder mehr Gebärmutter-Vereiterungen (Pyometren) sehen. Aber auch das ist eben eine Sache der Risikoabwägung. Ein gut aufgeklärter Besitzer wird sowohl ein Gebärmutter-Problem als auch einen Gesäugetumor frühzeitig erkennen und entsprechend beim Tierarzt vorstellen. Die Chancen einer frühen und erfolgreichen chirurgischen Intervention sind dann ganz entschieden besser als bei einem Hämangiosarkom der Milz oder gar einem Lympho- oder Osteosarkom.

Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass ich mit dieser für meine Praxis geltenden Positionsfestlegung in das sprichwörtliche Wespennest steche, und zwar gleichermaßen bei Hundebesitzern und bei Tierärzten. Sicherlich wird es viele Praxen geben, die bereits einen vergleichbaren Standpunkt eingenommen haben, dies aber nicht per Blog-Artikel öffentlich machen. Andere Kolleginnen und Kollegen werden meine Einlassungen als viel zu vorschnell verurteilen und nach immer noch beweiskräftigeren Studien rufen. Mir geht es um zwei Punkte: In erster Linie möchte ich mit diesem Artikel meine Kunden darüber informieren, dass sich etwas Grundlegendes geändert hat. Darüber hinaus würde ich ungern erleben, dass wir, wie damals bei der Verlängerung der Impfintervalle, eine neue Entwicklung komplett verpennen, um dann 5 bis 10 Jahre hinter den Amerikanern her zu hinken.

Sobald sich der Staub etwas gelegt hat (was noch einige Zeit dauern kann), werden wir für unsere Kunden ein Aufklärungsformular verfassen, in dem alle bis zu diesem Zeitpunkt als gesichert geltenden Fakten aufgeführt sind.

Bleiben Sie uns gewogen, bis bald, Ihr

Ralph Rückert


© Kleintierpraxis Ralph Rückert, Bei den Quellen 16, 89077 Ulm / Söflingen

Sie können jederzeit und ohne meine Erlaubnis auf diesen Artikel verlinken oder ihn auf Facebook bzw. GooglePlus teilen. Jegliche Vervielfältigung oder Nachveröffentlichung, ob in elektronischer Form oder im Druck, kann nur mit meinem schriftlich eingeholten und erteilten Einverständnis erfolgen. Von mir genehmigte Nachveröffentlichungen müssen den jeweiligen Artikel völlig unverändert lassen, also ohne Weglassungen, Hinzufügungen oder Hervorhebungen. Eine Umwandlung in andere Dateiformate wie PDF ist nicht gestattet. In Printmedien sind dem Artikel die vollständigen Quellenangaben inkl. meiner Praxis-Homepage beizufügen, bei Online-Nachveröffentlichung ist zusätzlich ein anklickbarer Link auf meine Praxis-Homepage oder den Original-Artikel im Blog nötig.

http://www.das-hundezentrum.de/wissens-blog/das-ding--mit-der-fruhkastr.html